Achards Lehrer: Andreas Sigismund Marggraf

Andreas Sigismund Marggraf (3.3.1709 - 7.8.1782)

Wir sind gewohnt, den Aufschwung der Chemie in Deutschland mit dem Wirken Justus Liebigs (1803 - 1873) zu verbinden, denn Liebig steht mit seiner einzigartigen Bedeutung für Forschung und Unterricht sowie der Auswirkung auf die Wirtschaft eindeutig am Beginn einer Entwicklung, die nach ihm nicht wieder abgerissen ist. In Berlin wirkte jedoch fast 100 Jahre vor Liebig mit Andreas Sigismund Marggraf ein Chemiker, der durch grundlegende Entdeckungen am Anfang von vielen heute bedeutenden wirtschaftlichen Entwicklungen steht.

Wie kam das Preußen des 18. Jahrhunderts zu einer solchen Chemiker-Persönlichkeit? Brandenburg-Preußen hatte 100 Jahre zuvor durch die Ansiedlung der Hugenotten einen guten Schuß merkantilen Geist und Weltoffenheit erhalten. Unter ihrem ersten König, Friedrich I., hatte die Hauptstadt zwar keine Universität, aber höfischen Glanz, Architektur und so viel Atmosphäre entwickelt, daß ein Mann wie Leibniz gewonnen werden konnte. Des Königs Sohn Friedrich Wilhelm I. hat nicht nur den preußischen Militarismus geschaffen und seine Untertanen geprügelt, sondern auch einiges zu deren Nutz und Frommen vollbracht. Durch rigoroses Sparen hat er den Schuldenberg seines großzügigen Vaters abgetragen; die Sauberkeit und Effizienz der Verwaltung ist sein Werk. Die von ihm zunächst unglaublich rüde behandelten Gelehrten haben jahrelang von den nachgezahlten Gehältern gelebt, die der großzügige Vater schuldig geblieben war. Friedrich Wilhelm I. hat die Charité gegründet, um Militärärzte auszubilden, gefördert hat er damit allerdings die gesamte Entwicklung der Medizin. Sein Appell an wirtschaftliches Denken hat dazu beigetragen, daß die wirtschaftliche Verwertung wissenschaftlicher Entdeckungen auf die Tagesordnung kam.

Marggraf wurde am 3. März 1709 als Sohn eines Apothekers geboren. Der Vater war zu Wohlstand gekommen, so daß sein Sohn zeitlebens wirtschaftlich unabhängig war und auch den Aufwand seiner Forschung selbst bestreiten konnte. Er erlernte zunächst in der väterlichen Apotheke das Apothekergewerbe und wurde dann durch den Hofapotheker Neumann fünf Jahre weitergebildet. Neumann war Schüler von Stahl, dem bekannten Phlogiston-Theoretiker. Marggraf arbeitete dann in damals berühmten Apotheken in Frankfurt am Main und in Straßburg; er studierte 1733/34 in Halle Medizin und war anschließend in Freiberg tätig, wo er bei Baurat Henckel die noch wenig betriebene "nasse Analyse" erlernte. Als Sechsundzwanzigjähriger kehrte er nach Berlin zurück, wo er bis zu seinem Tode blieb. Bereits zwei Jahre später wurde er Mitglied der Akademie.

Die Akademie besaß zu dieser Zeit in der Dorotheenstraße 10 ein chemisches Laboratorium. Dort befaßte sich Marggraf zunächst mit dem Phosphor, der zwar bekannt, aber noch teurer als Gold war. Marggraf vervollkommnete die Herstellung, indem er Urin mit Bleikalk, Salmiak und Weinstein eindampfte und erhitzte. Nach vergeblichen Versuchen, Phosphor mit Edelmetallen zur Reaktion zu bringen, fand Marggraf dessen leichte Reaktion mit Schwefel. Diese Reaktion wird heute industriell in großem Maßstab durchgeführt und ergibt die Vorprodukte bekannter Insektizide.

Bei der Verbrennung des Phosphors zum Pentoxid beobachtet Marggraf, daß das kristalline Produkt schwerer ist als der eingesetzte Phosphor. Die Alltagserfahrung, daß, wer etwas verbrennt, nachher weniger an Gewicht zusammenzukehren hat, hatte bekanntlich die Theorie des Phlogiston begünstigt. Ihr zufolge sollte ein geheimnisvoller Stoff "Phlogiston" beim Verbrennungsvorgang entweichen. Marggraf, der sich ohnehin nicht für Theorien aufreibt, gelangt von seiner Beobachtung allerdings nicht zu einer neuen Interpretation der Verbrennung. Das gelingt erst eine Generation später Lavoisier in Frankreich.

1745 erscheint eine Arbeit, die die Auflösung von Gold, Silber und anderen Schwermetallen in einer Alkalilauge beschreibt, "welche vorhero mit getrocknetem Rinderblut calcinieret war". Marggraf hatte nach heutiger Kenntnis cyanidhaltige Lauge verwendet und damit nicht nur das Cyanid, sondern auch dessen Lösevermögen für Edelmetalle gefunden.

1749 wird eine Arbeit über die Herstellung von Zink publiziert, die für die Metallurgie besonders wichtig wurde. Marggraf hatte die Flüchtigkeit des Zinks entdeckt und beschrieb die Abscheidung frisch reduzierten Zinks durch Destillation. 200 Jahre lang benutzte man dieses Prinzip zur industriellen Zinkgewinnung.

Untersuchungen an pflanzlichem Material führten zur Entdeckung von "mineralischem und vegetabilischem Alkali", nach heutiger Sicht der Natrium- und Kaliumsalze. Marggraf findet sie nicht nur in der Pflanzenasche, sondern kann sie auch aus der Pflanze selbst extrahieren. Sie sind also kein Artefakt der Verbrennung. Bei dieser Gelegenheit findet Marggraf die Flammenfärbung durch Salze des Natriums (gelb) und des Kaliums (violett). Der Chemiker weiß heute, daß Kaliumsalze außerordentlich rein sein müssen, damit ihre Flammenfärbung nicht von der gelben Farbe des Natriums überdeckt wird, und bekommt Respekt vor Marggrafs Arbeitsweise.
1759 - Preußens Heer erleidet die Niederlage bei Kunersdorf - entdeckt Marggraf die Hydroxide des Magnesiums und des Aluminiums, die in unserem Jahrhundert Vorprodukte der Erzeugung der beiden Leichtmetalle sein werden.

Die spektakulärste und wirtschaftlich bedeutendste Arbeit von Marggraf ist der Nachweis des Zuckers in Rüben und seine Isolierung. Diese Arbeiten sind wahrscheinlich aus den genannten Versuchen hervorgegangen, Salze aus Pflanzenmaterial zu isolieren. Die Arbeitsweise ist nämlich ganz ähnlich. Der erste Nachweis von Zucker scheint relativ einfach gewesen zu sein: An der Oberfläche von getrockneten Rübenscheiben ließen sich mit dem Mikroskop Zuckerkristalle nachweisen. Sehr viel schwieriger waren Versuche, wägbare Mengen des Zuckers zu isolieren. Extraktion mit Alkohol führte zum Ziel. Die Angaben in Pfund und Unzen lassen eine Ausbeute von sechs Gewichtsprozent errechnen - die heutige, züchterisch veredelte Rübe ergibt das Dreifache.
Marggraf macht sich bereits daran, den als Lösungsmittel allzu akademischen Alkohol durch Wasser zu ersetzen. Jeder, der einmal Zuckerrübensaft eingedampft hat, weiß, daß man statt Zucker einen schwarzen Sirup erhält.

Marggraf kennt bereits den günstigsten Monat für Ernte und Verarbeitung der Rübe. Er bemüht sich stark um eine Zuckergewinnung im großen Maßstab. Trotzdem ist er sich bewußt, daß die Einführung einer Zuckerproduktion weit über seine Kräfte geht. Erst sein Schüler und Nachfolger im Amt Carl Achard wird ein halbes Jahrhundert später diese Aufgabe lösen, mit einem über Jahre erbrachten Einsatz aller Kräfte und auch seines Vermögens, außerdem begünstigt durch die napoleonische Kontinentalsperre, durch die kein Rohrzucker nach Europa kommt.
Marggraf lebt als Junggeselle in dem Haus, in dem sich auch das Laboratorium befindet. 1770 erleidet er einen Schlaganfall, von dem er sich nur langsam erholt, und von dem ihm eine teilweise Lähmung bleibt. Er arbeitet dennoch weiter, aber man sieht es Schriftstücken aus dem letzten Jahrzehnt seines Lebens an, wie schwer ihm selbst das Schreiben fällt. Er stirbt nach einem arbeitsreichen Leben im Alter von 73 Jahren.

Ernst Schmitz