Rede von Prof. Dr. Dieter Simon zum Zuckerfest

REDE VON PROF. DR. DIETER SIMON, PRÄSIDENT DER BERLIN-BRANDENBURGISCHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN, BERLIN, ZUM ZUCKERFEST IN BERLIN-KAULSDORF ANLÄSSLICH. DES 250.GEBURTSTAGES VON FRANZ CARL ACHARD AM 26. APRIL 2003

Franz Carl Achard 1753 – 1821

Meine Damen und Herren,
Ähnlich wie das Salz hat früher auch der Zucker als unverzichtbares Nahrungsmittel die Phantasie und den Witz des Volkes beschäftigt. Schlägt man in dem großen deutschen Sprichwörter-Lexikon von Karl Friedrich Wilhelm Wander aus dem Jahre 1867 nach, findet man unter „Zucker“ Nachweise über nicht weniger als 44, heute meist völlig vergessene Redensarten und Sprichwörter – von „Zucker im Mund, Pfeffer im Herzen“, über „Zucker lockt mehr Fliegen herbei als Essig“, bis zu „wer keinen Zucker hat, muß keinen Kuchen backen“.
Nicht weniger vergessen als die Spruchweisheiten des gemeinen Mannes sind in aller Regel diejenigen, die einmal dafür Sorge getragen haben, daß das Unverzichtbare noch heute täglich bereitgestellt werden kann. Das gilt auch von Franz Carl Achard, dem „Erfinder des Preußischen Zuckers“, wie ihn seine Zeitgenossen in Gedichten apostrophierten.

Um so erfreuter ist die Berlin–Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, daß heute und hier in Kaulsdorf die Möglichkeit besteht, eines Mitgliedes der Akademie zu gedenken, dessen Lebenslauf im übrigen mit demjenigen eines gegenwärtigen Mitgliedes offenkundig recht wenig Ähnlichkeit hat.
Das fängt schon bei seiner wissenschaftlichen Heimstatt, der Akademie, an, welche seinerzeit „Königlich Preußische Akademie der Wissenschaften zu Berlin“ hieß. Ein Titel, der sich auch bei der engagiertesten Absicht an ehrwürdige Traditionen anzuknüpfen, nicht wiederherstellen lassen würde.
Er war, als er in die Akademie aufgenommen wurde, auch nicht Universitätsprofessor oder Direktor einer Forschungseinrichtung. Ja, es sieht sogar so aus, als habe er niemals eine akademische Ausbildung an einer Universität erhalten. Allerdings war er bereits Mitglied, richtiger sogar: Mitbegründer, der „Berlinischen Gesellschaft naturforschender Freunde“. Als Angehöriger einer angesehenen hugenottischen Familie hatte er eben auch ohne formale Qualifikation Zugang zu den Bildungsstätten und Forschern seiner Zeit.
Als er dem König zur Ernennung als Akademiemitglied vorgeschlagen wurde, war er 23 Jahre alt, was zwei weitere tiefgreifende Unterschiede zur Gegenwart bezeichnet. Nicht nur, daß es an einem König fehlt, so daß die Akademie in eigener Regie entscheiden kann, wen sie zum Mitglied machen möchte und wen nicht, denn Senator Flierl ist keineswegs an Königs Stelle getreten. Es kommt hinzu, daß er in diesem Alter heute bestenfalls studentische Hilfskraft an der Universität werden könnte und es vielleicht gerade noch wenige Jahre vor seinem Tod, der ihn mit 68 Jahren ereilte, schaffen könnte, in die Akademie gewählt zu werden.
Er wurde auch nicht als Spitzenforscher und herausragende wissenschaftliche Persönlichkeit in die Akademie berufen, sondern als Gehilfe von Andreas Sigismund Marggraf (1709-82). Dieser Marggraf war Mitglied der Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften und langjähriger Leiter des Chemischen Laboratoriums der Akademie.
Er ist der eigentliche Entdecker des Zuckergehalts der Runkelrübe (1747). Von den Zeitgenossen wird er, wohl deshalb, sehr häufig als Lehrer Achards bezeichnet. Denn Achard hat letzten Endes nichts anderes gemacht, als Marggrafs Entdeckung „umgesetzt“, wie man heute sagen würde. Er hat aus den theoretischen Einsichten praktisch Zucker gemacht.
Eben deswegen aber wurde Achard berufen. Denn, so schrieb die Akademie an ihren König: „Da sich die Zahl unserer guten Chemiker zu vermindern droht – das ist übrigens der erste Punkt, an dem sich Vergangenheit und Gegenwart berühren, denn auch heute vermindert sich in Deutschland die Zahl guter Chemiker bedrohlich – also: Da sich die Zahl unserer guten Chemiker zu vermindern droht und im übrigen die Stelle des verstorbenen Professor Brandes nicht mit einer Pension verbunden war, - die Sache war also kostenneutral - glauben wir eine sehr vortreffliche Erwerbung zu tätigen, wenn EURE MAJESTÄT den genannten Herrn Achard in einer Laufbahn befördern, die er bereits mit soviel Eifer betreten hat, indem uns erlaubt wird, ihn in die Akademie aufzunehmen“.

Achard glaubte auch selbst, daß er für die Akademie ein Gewinn sei. Denn - auch dies trennt das 21. Jahrhundert erbarmungslos vom 18.ten - er hat sich eingehändig beim König um seine Aufnahme beworben. Dergleichen kommt heutzutage nicht vor – wer nicht von anderen als Akademiemitglied entdeckt wird, bleibt still zuhause und ärgert sich.

Von der Art, wie man damals Bewerbungsschreiben abfasste, könnte die Gegenwart allerdings durchaus profitieren. Angesichts der Stellenstreichungen an den Universitäten wäre es vielleicht erfolgreich, wenn ein künftiger Chemieprofessor an Herrn Sarrazin schreiben würde:

„Da ich die Chimie zu mein haupt Studium erwählet, auch schon durch meine gedruckte Abhandlungen Beweise meines Fleißes gegeben und die hohe Gnade genossen, schriftliche Beweise des gnädigen Wohlwollens zu erhalten, mit welchen Ihre Majestät meine Chymische und Physische Schriften, die ich Dieselben unterthänigst vor Augen gelegt habe, aufgenommen [...] so habe Ihnen, Hoch und Wohlgeborene Herrn, um Dero Wohlgewogenheit gantz gehorsamst ersuchen wollen, indem ich mich unterstehe, bei Ihnen um die Stelle des verstorbenen Professoris Chimae und Mitglied dere Königlichen Academie Brandes gantz ergebenst anzuhalten [...]. Durch anhaltenden Fleiß und unermüdete Arbeitsamkeit werde ich dero Wahl zu rechtfertigen suchen und mich Ihres schätzbaren Wohlwollens immer würdiger machen“.
Man müßte es einmal versuchen.

Als Akademiemitglied zeichnet sich Achard durch ein außerordentliches Engagement aus – auch dies bis heute ein eher seltener Fall.
Allein während der ersten sechs Jahre seiner Akademiemitgliedschaft hielt er 18, zum Teil sehr umfangreiche Vorträge, die anschließend gedruckt wurden – insgesamt hat er im Laufe seiner Akademiemitgliedschaft über 80, u.a. mehrteilige Beiträge in den Publikationsreihen der Akademie veröffentlicht: Seine Vorträge behandelten eine Vielfalt chemischer, physikalischer und biologischer Probleme, die er häufig auf Ergebnisse aus langen Versuchsreihen stützen konnte.

Und schließlich – der allerungewöhnlichste von allen Sachverhalten, wie wir sie heute kennen:
Achard verschuldete sich auch persönlich für viele seiner wissenschaftlichen Projekte, und zwar so hoch, daß sein Leben von großen finanziellen Problemen verdüstert wurde. Im Archiv unserer Akademie befinden sich immer noch umfangreiche „Acta Hn. Director Achard Schuldenwesen betreffend 1786-1810“ .
1791 war der Schuldenberg so angewachsen, daß er der Akademie für einen geringen Preis 300 physikalische Instrumente verkaufen mußte. Eine Sammlung, die die physikalische Klasse zu der Feststellung veranlasste, sie könne „sich rühmen, einen schönen und wohlfeilen Zuwachs an Instrumenten erhalten zu haben“.

Achards wissenschaftliche Interessen waren weit gespannt und betrafen fast alle Bereiche und Probleme der damaligen Naturwissenschaften.

Aber bestimmend für sein wissenschaftliches Leben bis zu seinem Tode und seinen Nachruhm wurde seine immer intensiver werdende Beschäftigung mit dem Anbau von Rüben und der Rübenzuckerproduktion. Seit den 80er Jahren des 18. Jhs. beschäftigte sich Achard mit Anbau- und Züchtungsversuchen von Rüben und ihrer [späteren industriellen] Verwertung.

Das begann 1782 mit dem Erwerb von Gut Kaulsdorf, wo er im folgenden Frühjahr mit dem Anbau und der Auswahl verschiedener Arten von Rüben begann und endete 1801 mit dem Erwerb des schlesischen Gutes Cunern, wo er sich seitdem überwiegend aufhielt. Berlin und die Akademie gerieten aus seinem Blickfeld. Und ab 1803 zog sich Achard völlig aus den Akademiegeschäften zurück und lebte nur noch auf dem Lande in Cunern, wo er 1821 starb.

Die Akademie hatte ihn schon vergessen.

Das Chemische Laboratorium der Preußischen Akademie der Wissenschaften, welches Achard sehr zum Mißfallen vieler Akademiemitglieder nach und nach in eine „königliche Rohzuckerfabrik“ verwandelt hatte, wurde ab 1801 trotz eines gewissen Widerstandes der „Runkel-Rüben-Roh-Zucker-Fabrications-Versuchs-Commission“ wieder in den ursprünglichen Zustand zurückversetzt.

Die Spuren Achards in der Akademie verblaßten. Mit einem Nachruf wurde er nicht gewürdigt.

Umso lebenskräftiger und erfolgreicher entwickelte sich seine Entdeckung, die er in einer Abhandlung mit dem Titel „Ueber die Bereitung des Zuckers aus der Runkel-Rübe“ niederlegte und am 11. Januar 1799 Friedrich Wilhelm III. überreichte - zusammen mit zwei „Rüben, einer Zuckerprobe sowie Modellen je einer zur Erleichterung der Rübenkultur dienenden Walze“.
Das war die endliche Geburt der Rübenzuckerindustrie, deren Zeugung auf dem Gut Kaulsdorf stattgefunden hatte.

Dieter Simon